Programmierte Animationen in mathematischen Erklärvideos
Einleitung
Anhand eines konkreten Fallbeispiels als Ausgangspunkt werden die bildungstheoretischen Eigenschaften von Erklärvideos sowie ihre Desiderata in Hinblick auf Gestaltungs- und Qualitätskriterien betrachtet, und beides anschließend auf das Fallbeispiel angewendet.
Programmierte Erklärvideos: Der YouTube-Kanal 3Blue1Brown
Der YouTuber Grant Sanderson stellt auf seinem Kanal 3Blue1Brown Erklärvideos zu verschiedenen Themen der (höheren) Mathematik ein. Sanderson nutzt grafische Animationen zur Verdeutlichung und legt Wert darauf, mathematische Intuition zu fördern. Viele Menschen – die Videos haben bis zu 16 Millionen Aufrufe – schauen sich diese Videos regelmäßig im Abonnement oder aufgrund einer Suche zum jeweiligen Thema an. Dabei kommentiert ein Teil von ihnen diese Videos, wobei mehrere tausend Kommentare bei beliebten Videos vorkommen können. Die Zuschauer rekrutieren sich nicht nur aus studentischen Kreisen, sondern durch die attraktive graphische Gestaltung gehen diese Videos zuweilen „viral“ und werden auch von Menschen geteilt, die wenig Mathematikinteresse besitzen, sondern denen das Zuschauen Freude bereitet (vgl. Valentin, 2020, S. 52). Ob tatsächliches Lernen stattfindet, ist dabei nicht überprüfbar. Insbesondere die einfache Auffindbarkeit, der Unterhaltungswert und die Gestaltung lassen eher einen Unterhaltungs- denn einen Lernwert vermuten. Nichtsdestoweniger kommentieren Menschen oftmals, sie hätten das Thema nun erstmals begriffen. Sanderson hat bereits zwei Jahre in Folge einen “Summer of Math Exposition” ausgerufen, in dem er andere Menschen ermutigt, eigene Erklärvideos zu produzieren und ihnen durch diesen Wettbewerb Aufmerksamkeit seiner eigenen Abonnenten zu schenken.
Die programmierten mathematischen Animationen, mit denen der YouTube-Kanal 3Blue1Brown mathematische Zusammenhänge erläutert, haben aufgrund ihrer Beliebtheit inzwischen zahlreiche Nachahmer gefunden. Die Neuheit dieser Präsentation gegenüber herkömmlichen Lehrbüchern oder bis dahin bei Mathematikvideos üblichen Kameraaufnahmen von oben auf Handschrift wirft unmittelbar die Frage auf, welchen Lehrwert diese animierten Videos haben. Um dies beantworten zu können, müssen wissenschaftlich gesicherte Kriterien zugrundegelegt werden. Jedoch existieren keine expliziten didaktischen Kriterien für mathematische Animationsvideos, ebensowenig für programmierte Animationen. Daher werden vorliegend Kriterien zu Qualität und Gestaltung von Erklärvideos allgemeiner Art herangezogen. Daraus ergibt sich folgende Forschungsfrage:
Entsprechen die 3Blue1Brown-Videos den Qualitäts- und Gestaltungskriterien, die in der Fachliteratur aufgestellt werden?
Zur Beantwortung werden zunächst der Begriff der und die Eigenschaften von Erklärvideos diskutiert. Anschließend werden geeignete Theorien vorgestellt, die auf Erklärvideos Anwendung finden können. Der anschließende Schritt, Qualitätskriterien für Erklärvideos aus der Literatur anhand ihrer Anwendbarkeit sowie Sinnhaftigkeit mit Blick auf das konkrete Fallbeispiel herauszufiltern, ist zunächst durch die vorgestellten Theorien informiert; die Forschenden, die diese Qualitätskriterien aufgestellt haben, haben sich wesentlich durch diese Theorien leiten lassen. Der selbst aufgestellte Katalog anwendbarer Qualitätskriterien wird dann auf eine Auswahl von 3Blue1Brown-Videos angewendet, um abschließend im Rückblick die Forschungsfrage zu beantworten und in einem kurzen Ausblick weitere Forschungsmöglichkeiten mit engem Bezug zur vorliegenden Arbeit aufzuzeigen.
Die Literatur grenzt Erklärvideos auf ganz unterschiedliche Weisen von anderen Videoformen mit Lehranspruch wie z.B. Lehrvideos ab. Vorliegend wird dem Definitionsversuch von Fey gefolgt, der zwei zentrale Merkmale identifiziert: (1) es besteht die Absicht der Produzierenden, den Zuschauenden etwas zu erklären (intentionaler Aspekt), (2) dies wird in der medieneigentümlichen Gestaltung des Medienformats „Video ausgedrückt (gestalterisch-didaktischer Aspekt) (vgl. Fey, 2021, S. 21). Der intentionale Aspekt umfaßt also instruktionale Erklärungen (vgl. Kulgemeyer, 2018, S. 9, vgl. 2020a, S. 5–6), mithin allgemein- wie fachdidaktische Überlegungen. Der gestalterische Aspekt umfaßt den gezielten Einsatz des Medienformats „Video“ unter Nutzung der spezifischen Vorteile und Möglichkeiten und damit neben mediendidaktischen auch medienpraktische und medientechnische Überlegungen.
Die klassischen 3Blue1Brown-Videos sind vollständig computergeneriert, es findet keine Videokamera Verwendung. Ausnahmen existieren bei „FAQ-Videos (Videoverzeichnis: [QA]) oder Ankündigungsvideos, beispielsweise für den „Summer of Math Exposition“ (Videoverzeichnis: [SoME]). Sanderson hat dazu mit manim (Sanderson, 2015/2023) eine Programmbibliothek entwickelt, die es ihm ermöglicht, Videos in der Programmiersprache Python zu programmieren und daraus eine Videodatei generieren zu lassen. Dies umfaßt sowohl die High-Level-Organisation des Videos samt Szenen, Anzeigedauer, Schnitten und Übergängen, als auch die eigentliche mathematische Visualisierung mit Achsenkreuzen, Funktionsgraphen, 3D-Visualisierung komplexer Formen, aber auch von Graphen, Netzwerken und vielem mehr. All dies wird animiert, also zeitlich in Bewegung gebracht, dazu werden Texte an passender Stelle ein- und ausgeblendet, besondere Koordinaten farblich hervorgehoben und vieles mehr. Die Tonspur ist separat aufgenommen und in Postproduktion hinzugemischt.
Theoretische Rahmung
Da keine speziellen Theorien für Erklärvideos oder programmierte Animationen vorliegen, muß auf allgemeinere Theorien zurückgegriffen werden. Zunächst wird die Medieneigenschaft von Erklärvideos diskutiert. Anschließend wird als erstes die Theorie der Dualen Kodierung beschrieben. Darauf aufbauend wird die „Kognitive Theorie Multimedialen Lernens” vorgestellt, die aufgrund der multimedialen Verknüpfung von Sprache und Bild in Erklärvideos Ansätze zur Untersuchung der 3Blue1Brown-Videos liefern kann. Abschließend wird eine Erweiterung dieser Theorie vorgestellt, die „Cognitive-Affective Theory of Learning with Media.
Medium
Nach Wiesing sind alle Medien Werkzeuge, um die Trennung Genese–Geltung zu vollziehen, und alle Werkzeuge, die dies leisten, sind Medien (vgl. Wiesing, 2008, S. 240).
Medien selbst sind „unthematisch“ (Wiesing, 2008, S. 236), sie erfüllen ihre Funktion, sind selbst jedoch nicht sichtbar bzw. den Verwendern transparent (vgl. Krämer, 2008, S. 72).
Duale Kodierung
Die Theorie der Dualen Kodierung postuliert die bessere Abrufbarkeit von Informationen, wenn diese zugleich in verbaler, auch textueller (vgl. Matthes et al., 2021, S. 22) Form und in visueller Form im Gedächtnis verankert werden (vgl. Schmidt-Borcherding, 2020, S. 63). Durch Nutzung beider Kodierungen soll die kognitive Last sinken, indem die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses effektiv erhöht wird (vgl. Sweller, 2011, S. 67).
Kognitive Theorie Multimedialen Lernens
Wohingegen die Theorie der Dualen Kodierung auf die multicodale Speicherung von Informationen im Gehirn abstellt, beschreibt die Kognitive Theorie Multimedialen Lernens Vorteile durch zeitgleiche Nutzung mehrerer menschlicher Sinne, insbesondere der Augen und Ohren. Beide Theorien sind dadurch gut miteinander verträglich, da eine multimodale Informationsaufnahme und eine multicodale Informationsspeicherung sogar einfacher beschreibbar ist, da kein Multiplexing oder Demultiplexing mehrerer Sinneskanäle auf eine Speicherart oder eines Sinneskanals auf mehrere Speicherarten erforderlich ist.
Jedoch vermeidet die Kognitive Theorie Multimedialen Lernens das Problem, daß die Verwendung von gedruckter Schrift und gedrucktem Bild zwar unterschiedliche Kodierungen der Information nutzt, jedoch beide Kodierungen denselben Sinneskanal „Auge“ passieren müssen. Die Aufmerksamkeit der Zuschauenden teilt sich zwangsläufig zwischen Text und Bild auf (vgl. Schmidt-Borcherding, 2020, S. 66).
Die Kognitive Theorie Multimedialen Lernens postuliert getrennte Verarbeitungseinheiten für unterschiedliche Sinneskanäle wie Hören und Sehen (vgl. Schmidt-Borcherding, 2020, S. 63). Dadurch addieren sich die Verarbeitungskapazitäten verschiedener Informationsmodalitäten, z.B. das Arbeitsgedächtnis (vgl. Schmidt-Borcherding, 2020, S. 65–66), und es tritt eine scheinbare Erhöhung der Verarbeitungskapazität ein, die auf der effektiveren Nutzung aller Verarbeitungseinheiten basiert.
Cognitive-Affective Theory of Learning with Media
Die Cognitive-Affective Theory of Learning with Media setzt auf diesen Prinzipien auf und fügt eine affektionelle und motivationale Komponente hinzu, die selbstregulierend wirkt. Dabei sollen diese Faktoren insbesondere die Aufmerksamkeit der Lerner erhöhen oder halten, aber auch die kognitive Auseinandersetzung mit dem Lernstoff stimulieren (vgl. Moreno, 2006, S. 151).
Aus diesem zusätzlichen Augenmerk heraus ergeben sich einige motivations- bzw. emotionswirksame Kriterien in den Katalogen der Qualitätskriterien in der Literatur bzw. des synthetisierten Kriterienkatalogs (z.B. K07, K11, K13, K21, K25 und K26).
Abbildung 1 Schematische Darstellung der Cognitive-Affective Theory of Learning with Media (Moreno, 2006, S. 151)
Kriterien für Erklärvideos
Aus den theoretischen Überlegungen ergeben sich im Idealfall direkt, bei realitätsnaher Betrachtung nur teilweise oder indirekt Qualitätskriterien für Erklärvideos. Dennoch sind die Kriterien nicht allesamt aus den Theorien herleitbar, sondern entstammen auch anderen Überlegungen, praktischen Erfahrungen und empirischen Studien.
Kriterienkataloge aus der Literatur
In der Literatur sind verschiedene Kataloge solcher Qualitätskriterien auffindbar, im folgenden werden vier Kataloge ausgewertet und diese anschließend in einen eigenen Kriterienkatalog überführt.
Kulgemeyer
Kulgemeyer untersucht insbesondere die Erklärqualität von Erklärvideos, er bezieht sich also vorwiegend auf den intentionalen Aspekt, nicht so sehr den gestalterischen oder ästhetischen Aspekt (vgl. Kulgemeyer, 2018, S. 10). Der Kriterienkatalog ist in Abbildung 2 abgebildet.
Abbildung 2 Kulgemeyer 2018, S. 10
Seine Untersuchungen sind besonders geeignet, da er insbesondere Erklärvideos im Fach Physik untersucht (vgl. Kulgemeyer & Peters, 2016). Konkretere Hinweise zum Instruktionsdesign erarbeitete er in einer Folgearbeit (vgl. Kulgemeyer, 2020b, S. 73). Dieser Kriterienkatalog ist in Abbildung 3 zu finden.
Abbildung 3 Kulgemeyer 2019, S. 73
Brame
Ebenfalls recht detaillierte Hinweise gibt Brame in ihrem Kriterienkatalog (Abbildung 4); sie fügt auch Begründungen hinzu (vgl. Brame, 2016, S. 3).
Abbildung 4 Brame 2016, S. 3
Sie betrachtet dazu drei Elemente: Kognitive Last bezeichnet die Beanspruchung des Arbeitsgedächtnisses (vgl. Sweller, 1994, S. 45). Studentisches Engagement ist ein motivationaler Aspekt. Aktives Lernen beinhaltet neben Engagement mit dem Lehrstoff auch Denken höherer Stufen, studentische Aktivitäten (Diskussion, Schreiben) und „Beteiligung durch mehr als Zuhören (vgl. Bonwell, 1991, S. 2 englisches Original: „…involved in more than listening.) . Besonders hervorgehoben werden der Nutzen von studentischer Interaktion, die die Handlungskontrolle auf studentische Seite verlagert, sowie der Gebrauch leitender Fragen (vgl. Brame, 2016, S. 5)
Findeisen/Horn/Seifried
In einer Metaauswertung verschiedener empirischer Studien zu den Einflußmerkmalen von Gestaltungselementen auf Zielgrößen läßt sich ablesen, welche Gestaltungselemente zuverlässig positiv oder negativ zu einer Zielgröße beitragen und welche keinen gesicherten Erfolg haben (vgl. Findeisen et al., 2019, S. 21–23). Vorliegend soll nur die Zielgröße „Lernerfolg“ Beachtung finden, weitere Zielgrößen wie „Lernanstrengung oder „Selbstwirksamkeit“ sind in Bezug auf die Forschungsfrage wenig relevant, zudem ist dort keine Anschlußfähigkeit an die anderen Kriterienkataloge gegeben. Der Kriterienkatalog ist in Abbildung 5, Abbildung 6 sowie Abbildung 7 zu finden.
Abbildung 5 Findeisen/Horn/Seifried 2019, S. 21
Abbildung 6 Findeisen/Horn/Seifried 2019, S. 22
Abbildung 7 Findeisen/Horn/Seifried 2019, S. 23
Als einflußreich ergaben sich die Gestaltungsmerkmale „Interaktion, „Perspektive, „Alter“, „Dauer“ und „Design“ (vgl. Findeisen et al., 2019, S. 30). Da es sich um eine Auswertung empirischer Studien handelt, ist diese Arbeit von besonderem Interesse, da sie durch die Empirie einerseits besonders praxisnah ist und tatsächliche Wirkung abbildet, andererseits aber auch eine andere Methodik als die eher theoretischen Herleitung von Kulgemeyer und Brame zugrundelegt.
Angewendeter Kriterienkatalog
Aus den vier Kriterienkatalogen aus der Literatur ist nun ein gemeinsamer Kriterienkatalog zu synthetisieren.
Aus Abbildung 2 und Abbildung 3 werden alle Kriterien übernommen.
Aus Abbildung 4 werden alle Kriterien der Kategorie Kognitive Last übernommen. In der Kategorie Studentisches Engagement entfällt das Kriterium „Relevanz zum Kurs betonen, da kein formales Lernsetting im Sinne einer Vorlesung vorliegt. In der Kategorie Aktives Lernen entfällt das Kriterium „Interaktive Fragen, da solche Möglichkeiten bei einem YouTube-Video im Gegensatz zu einem Learning-Management-System nicht bestehen.
Aus Abbildung 5, Abbildung 6 und Abbildung 7 werden zunächst nur die bereits genannten in der Gesamtschau der empirischen Studien wirksamen Gestaltungselemente aufgenommen: „Interaktion, „Alter, „Dauer“ und „Design. Das Gestaltungselement „Perspektive“ entfällt, da in 3Blue1Brown-Videos keine Handlung demonstriert wird und die Zuschauenden nicht im Video zu sehen sind. „Interaktion“ überschneidet sich mit dem oben ausgeschlossenen Kriterium der „Interaktiven Fragen“ bei Brame, beinhaltet hier jedoch auch Direktanwahl von Kapiteln oder Anpassung der Videogeschwindigkeit und wird daher aufgenommen.
Die akzeptierten Kriterien aller Literatur-Kriterienkataloge werden sprachlich vereinheitlicht und auf eine gemeinsame Abstraktionsebene gestellt. Doppelungen werden zusammengeführt, wobei ein geringfügiger Inhaltsverlust, wenn die Beschreibungen unterschiedlich weit gefaßt sind, akzeptiert wird. Gerade die beiden Kulgemeyer-Kataloge überschneiden sich verständlicherweise stark. Die Kategorisierungen, beispielsweise die „Begründungen“ bei Brame oder die „Kernideen“ bei Kulgemeyer, werden fallengelassen, da sie nicht autorenübergreifend sind.
Es ergibt sich die folgende Tabelle. Dieser Kriterienkatalog wird der eigenen Auswertung der 3Blue1Brown-Videos zugrundegelegt.
ID | Kriterium | Beschreibung |
---|---|---|
K01 | Minimalismus | Konzentration aufs wesentliche, Sparsamkeit mit Effekten |
K02 | Rule-Example-Strategie | Erst Prinzip, dann Veranschaulichung |
K03 | Adaption an Wissensstand | an Vorwissen anknüpfen |
K04 | Beispiele | Verwendung passender Beispiele |
K05 | Modelle und Analogien | Übertragung auf bekanntes |
K06 | Multimedia | Illustrative Darstellungsformen |
K07 | Sprachebene | Fachsprache einführen, an Sprachniveau der Rezipienten anknüpfen |
K08 | Mathematisierung kommentiert | Formeln erläutern |
K09 | Struktur | Ausblick auf Thema zu Beginn, Zusammenfassung zum Schluß |
K10 | Relevanz verdeutlichen | Anwendungsbereich zeigen |
K11 | Interesse wecken | Interessante Erklärung, z.B. durch Alltagsbeispiele oder besonders ungewöhnliche Beispiele |
K12 | Aufgabe | Eigene Bearbeitung durch Rezipienten durch „Hausaufgabe“ fördern |
K13 | Direkte Ansprache | z.B. durch Fragen an Rezipienten |
K14 | Exkurse vermeiden | Auf eine Kernidee fokussieren |
K15 | Sprachliche Kohärenz | Verwendung von Satz(teil)-Verbindungen wie „weil |
K16 | Konzepte und Prinzipien | Thema des Videos: neues Prinzip, das relativ komplex ist |
K17 | Signalisierung | Wichtige Elemente besonders hervorheben, beispielsweise farblich |
K18 | Segmentierung | Kurze Videos, weniger als 6 Minuten Dauer; anspringbare Kapitel |
K19 | Ablenkungen minimieren | Auf Hintergrundmusik oder komplexe Hintergründe verzichten |
K20 | Ton und Bild | Beide Modalitäten ergänzen sich |
K21 | Umgangssprache | z.B. „Ich“ und „du“ verwenden |
K22 | Sprechen | Relativ schnell und enthusiastisch |
K23 | Leitende Fragen | Fragen, die Rezipienten anleiten, worauf sie achten sollen |
K24 | Interaktivität | Direktwahl von Kapiteln, Wiedergabegeschwindigkeit |
K25 | Alter | Höheres Alter der erklärenden Person wirkt positiv (vgl. Findeisen et al., 2019, S. 30) |
K26 | Design | Positive Emotionen, Ästhetik, Nutzerfreundlichkeit |
3Blue1Brown-Videos
Der Kanal 3Blue1Brown enthält derzeit 129 Videos. Diese sind unterschiedlichen Typs, so existieren alleinstehende Videos, die beispielsweise ein mathematisches Rätsel erklären und eher auf Eleganz und Inspiration setzen, aber auch „Playlists“ von Videos, die in einer definierten Sequenz ein Themengebiet aus unterschiedlichen Blickwinkeln abdecken oder gar im Sinne eines Curriculums den Anspruch erheben, ein Themengebiet in relevanter Abdeckung zu lehren. Beispiele für diese letztere Art von Playlist ist „Essence of linear algebra“ (16 Videos, referenziert als [ELA01] bis [ELA16] im Videoverzeichnis). Die vorliegende Arbeit stützt sich auf diese Videos, um besonders beliebte Videos zugrundezulegen, aber auch weil der Lehranspruch in dieser Videoreihe besonders deutlich wird. Ferner wurde eine zusammenhängende Videoreihe gewählt, um das Kriterium der Struktur (K09) – videoübergreifende Ordnungsprinzipien und Verweise – nicht ins Leere laufen zu lassen. Dies bedeutet jedoch nicht, daß die diskutierten Kriterien in anderen Videos nicht veranschaulicht und bewertet werden könnten.
Anwendung der Theorie
Die 3Blue1Brown-Videos sind Medien. Sie erklären mathematische Sachverhalte, die zu allen Zeiten „in der Welt existieren, und auch vor ihrer Entdeckung durch Mathematiker bereits existierten. Ebenso ist ein wahres mathematisches Theorem nicht in seinem Bestand gefährdet, innerhalb seines Definitions- und Geltungsbereichs wird es auch in Zukunft wahr bleiben. Diese Geltung ist also nicht kontingent, ob Sanderson ein Video zum Thema produziert oder nicht, spielt keine Rolle. Die Handlung des Produzierens erschafft jedoch das konkrete Video in genau dieser Form, ohne Sandersons Handlung wäre seine Existenz undenkbar. Genau diese Trennung „Sanderson produziert ein Video (Genese) und „die Lineare Algebra funktioniert genau so“ (Geltung) macht die Medieneigenschaft des Erklärvideos aus.
Sie führt auch dazu, daß die körperliche Welt – bei digitalen Videos: Magnetisierungszustände oder Halbleiterspannungspotentiale – von der Welt der Bedeutung getrennt wird. Wenn ein Koordinatensystem linear oder nicht-linear transformiert, und diese Transformation in einer Animation im Zeitverlauf graphisch dargestellt wird (siehe Abbildung 8, Abbildung 9 und Abbildung 10), so ist dies in der körperlichen Welt nicht möglich. Denn selbst wenn man ein Gummituch nähme und dieses verzerrte und verformte, so würden sich unweigerlich Ungenauigkeiten, Verzerrungen und Falten, vielleicht gar Risse ergeben.
Abbildung 8 Koordinatentransformation 1, [ELA03], Zeitstempel 02:15
Abbildung 9 Koordinatentransformation 2, [ELA03], Zeitstempel 02:16
Abbildung 10 Koordinatentransformation 3, [ELA03], Zeitstempel 02:17
Duale Kodierung findet sich in den Videos allerorten: die Beschriftung relevanter Koordinaten oder Vektoren ist nur ein Beispiel (Abbildung 11 [ELA03], Zeitstempel 04:10).
Abbildung 11 [ELA03], Zeitstempel 04:10
3Blue1Brown-Videos sind auch ein gutes Beispiel für die Prinzipien der Kognitiven Theorie Multimedialen Lernens: neben den programmierten Animationen wird eine Erläuterung des Gezeigten gesprochen (vgl. „zeitliches Kontinuitätsprinzip, Schmidt-Borcherding, 2020, S. 67). Ein Beispiel ist in [ELA03], Zeitstempel 08:01 bis 08:21 zu finden, wo der gesprochene Text sich nur teilweise schriftlich im Bild wiederfindet, sondern tatsächlich zusätzliche Information gegeben wird, die durch die bildliche Begleitung erweitert und konkretisiert wird, siehe Abbildung 12.
Abbildung 12 “then î lands on the coordinates zero-one”, [ELA03], Zeitstempel 08:13
Die Cognitive-Affective Theory of Learning with Media stellt weniger konkrete Eigenschaften bereit, die ein Erklärvideo erfüllen könnte, sondern sie führt zur Aufnahme von motivationalen und affektiven Aspekten in den Kriterienkatalogen. Aus Kriterium K26 kann dann beispielsweise „Positive Emotionen“ herausgegriffen und anhand der „pi creatures gezeigt werden. „Pi creatures“ sind von Sanderson genutzte Charaktere in Form farbiger Pi-Symbole (siehe Abbildung 13) mit Mimik und Gestik, um Emotionen mit mathematischen Ergebnissen zu verbinden („having character in some capacity expressing emotion in response to mathematical results is pedagogically beneficial, [PI], Zeitstempel 11:50).
Abbildung 13 Pi creatures, [ELA09], Zeitstempel 04:10
Anwendung des Kriterienkatalogs
In der Anwendung ergiebiger als die Theorie sind die konkreten Qualitätskriterien. Nach Erarbeitung des synthetisierten Kriterienkatalogs wurden die Videos sorgfältig durchgesehen, um zu den Kriterien passende – oder ihnen widersprechende – Stellen in den Videos zu suchen. Die Zuordnung der Kriterien zu den Stellen in den einzelnen 3Blue1Brown-Videos ist in Anhang C dokumentiert.
Zur Auswertung ist offensichtlich, daß ein bloßes Abzählen der erfüllten oder nicht erfüllten Kriterien nicht ausreicht, da die Kriterien unterschiedlicher Art und damit nicht direkt komparabel sind, und da ihre relative Wichtigkeit schwankt. Stattdessen werden Kriterien, die durchgehend in der Mehrzahl der Videos oder in vielen Fundstellen erfüllt sind oder denen zuwidergehandelt wird, ohne Abbildungen als Beispiel diskutiert. Kriterien oder Videostellen, die als besonders wichtig zur Beantwortung der Forschungsfrage eingeschätzt werden oder die nur vereinzelt auftreten, werden dagegen mit konkreten Beispielen betrachtet.
Minimalismus
Aus Sicht eines statischen, gedruckten Lehrbuchs mag es abwegig erscheinen, animierte Videos als „minimalistisch“ zu bezeichnen. Doch ist eine Bewertung nur anhand und unter Akzeptanz der Medienform an sich sinnvoll, um dann in einem weiteren Schritt innerhalb der konkreten Medienform zu untersuchen, ob eine minimalistische Umsetzung erfolgt ist. Vorliegend kann dies bejaht werden. Es gibt höchstens in den letzten Sekunden des Videos kurze melodische Untermalungen, ansonsten keine Hintergrundmusik, Geräusche nur aus Effektgründen oder weitere auditive „Störungen. Visuell sind die Videos schlicht und reduziert gehalten, die Hintergründe sind schwarz und leer, Sanderson zeigt sich selbst nicht, womit auch diese Quelle von Bewegung und Ablenkung wegfällt (siehe Abbildung 14).
Abbildung 14 Leerer Hintergrund, [ELA09], Zeitstempel 01:05
Rule-Example-Strategie
Unmittelbar fällt auf, daß annähernd alle 3Blue1Brown-Videos gegen Kriterium K02 verstoßen, oft auch mehrfach. Das Kriterium fordert den Übergang vom Allgemeinen zum Speziellen. Zunächst sollen grundlegende Regeln gelehrt werden, die anschließend in konkreten Beispielen veranschaulicht und eingeübt werden.
Sanderson geht in der Regel umgekehrt vor: vom konkreten Beispiel zur Abstraktion. Diese Abweichung ist keineswegs gedankenlos, sondern intentional und entspringt seiner abweichenden pädagogischen Auffassung (vgl. [SoME], Zeitstempel 08:35 bis 11:01).
Diese Abweichung wird im Sinne der Forschungsfrage zulasten der 3Blue1Brown-Video gewertet werden, jedoch darf sie auch nicht allzu stark gewichtet werden, da der pädagogische Meinungsstreit zulässig ist. Zudem fokussiert die Literatur zum Thema Erklärvideo stark auf typische Unterrichtssettings im schulischen und hochschulischen Bereich, nicht auf das informelle Lernsetting mit Unterhaltungsanteilen, das bei YouTube vorherrscht.
Adaption an Wissensstand
Der Zuschauendenkreis der Videos ist ausgesprochen breit und heterogen. Es ist nicht möglich, bestimmte Kenntnisse vorauszusetzen. Noch weniger ist ein Feedback der Zuschauenden zu Sanderson in großer Menge möglich. Dieses Kriterium muß daher im wesentlichen unerfüllt bleiben, wobei dies eine Eigentümlichkeit des Distributionswegs YouTube sowie der 1:n-Kommunikation ist. Diese Videos erheben gar nicht den Anspruch, sich an bestimmte benennbare Personen zu wenden, so wie dies in einem Klassenzimmer oder einem definierten Hochschulmodul möglich wäre. An dieser Stelle verläßt sich Sanderson auf die Selbstselektion der Zuschauenden, die sich gemäß ihrer persönlichen Interessen – die auch reine Unterhaltung sein können – verhalten. Allerdings bringt Sanderson in der Mehrzahl der Videos nicht nur Rückschau und Vorschau auf die Videos zuvor und danach unter, sondern auch bei relevanten bereits behandelten Themen direkte, anklickbare Verweise auf diese vorherigen Videos.
Beispiele
Das Verzeichnis der Fundstellen weist über 40 Beispiele auf, die oftmals auch nicht nur wenige kurze Sätze umfassen, sondern vollständig ausgearbeitete Beispiel über mehrere Minuten sein können.
Modelle und Analogien
Etwas weniger häufig tauchen explizite Modelle oder Analogien vor, beispielsweise „Addition als Bewegung denken“ in [ELA01]. Modelle im Sinne formaler Modellierung einer Anwendungsdomäne kommen zwar nicht vor, dies wird jedoch durch vielfältige Vergleiche wettgemacht.
Multimedia
Die 3Blue1Brown-Videos sind an sich bereits Multimedia. Doch muß auch hier beachtet werden, daß es um Multimedialität speziell in Hinblick auf Erklärvideos geht. Gegenüber den in der Literatur üblicherweise betrachteten Erklärvideos, beispielsweise die Videoaufzeichnung einer Vorlesung oder die besprochene PowerPoint-Präsentation, kann die programmierte Animation punkten. Es handelt sich um eine andere Qualität von Multimedia, wenn bewegte Bilder nicht nur als Effekt, sondern als bedeutungsvolle Darstellung eingesetzt werden. Nichtsdestoweniger sind stärkere multimediale Anteile weiterhin denkbar, so ist abgesehen von dem „Jingle“ in [ELA15] keine besondere Audionutzung jenseits des gesprochenen Worts im Einsatz. Zu beachten ist in dieser Hinsicht aber das Spannungsfeld zu K01 „Minimalismus.
Sprachebene
Sanderson verwendet durchgängig Fachsprache, er schreckt auch vor Symbolen wie ĵ („j hat) oder dem Wort „Parallelepiped“ nicht zurück.
Abbildung 15 Parallelepiped, [ELA06], Zeitstempel 06:14
Diese Fachbegriffe verwendet er selbstverständlich und ohne besondere Heraushebung oder Belustigung, die bei anderen YouTube-Produzenten zuweilen zu beobachten ist. Neue Fachbegriffe werden jedoch stets bei Erstverwendung eingeführt und erläutert.
Mathematisierung kommentiert
Die kommentierte Umformung von Termen und Gleichungen nimmt großen Raum in den Videos ein, so sind etwa 50 Fundstellen verzeichnet. Ein Beispiel zeigen Abbildung 16, Abbildung 17 und Abbildung 18.
Abbildung 16 Mathematisierung, [ELA05], Zeitstempel 03:18
Abbildung 17 Mathematisierung, [ELA05], Zeitstempel 03:20