Programmierte Animationen in mathematischen Erklärvideos

Einleitung

Anhand eines konkreten Fallbeispiels als Ausgangspunkt werden die bildungstheoretischen Eigenschaften von Erklärvideos sowie ihre Desiderata in Hinblick auf Gestaltungs- und Qualitätskriterien betrachtet, und beides anschließend auf das Fallbeispiel angewendet.

Programmierte Erklärvideos: Der YouTube-Kanal 3Blue1Brown

Der YouTuber Grant Sanderson stellt auf seinem Kanal 3Blue1Brown Erklärvideos zu verschiedenen Themen der (höheren) Mathematik ein. Sanderson nutzt grafische Animationen zur Verdeutlichung und legt Wert darauf, mathematische Intuition zu fördern. Viele Menschen – die Videos haben bis zu 16 Millionen Aufrufe – schauen sich diese Videos regelmäßig im Abonnement oder aufgrund einer Suche zum jeweiligen Thema an. Dabei kommentiert ein Teil von ihnen diese Videos, wobei mehrere tausend Kommentare bei beliebten Videos vorkommen können. Die Zuschauerinnen und Zuschauer rekrutieren sich nicht nur aus studentischen Kreisen, sondern durch die attraktive graphische Gestaltung gehen diese Videos zuweilen „viral“ und werden auch von Menschen geteilt, die wenig Mathematikinteresse besitzen, sondern denen das Zuschauen Freude bereitet (vgl. Valentin, 2020, S. 52). Ob tatsächliches Lernen stattfindet, ist dabei nicht überprüfbar. Insbesondere die einfache Auffindbarkeit, der Unterhaltungswert und die Gestaltung lassen eher einen Unterhaltungs- denn einen Lernwert vermuten. Nichtsdestoweniger kommentieren Menschen oftmals, sie hätten das Thema nun erstmals begriffen. Sanderson hat bereits zwei Jahre in Folge einen “Summer of Math Exposition” ausgerufen, in dem er andere Menschen ermutigt, eigene Erklärvideos zu produzieren und ihnen durch diesen Wettbewerb Aufmerksamkeit seiner eigenen Abonnenten zu schenken.

Die programmierten mathematischen Animationen, mit denen der YouTube-Kanal 3Blue1Brown mathematische Zusammenhänge erläutert, haben aufgrund ihrer Beliebtheit inzwischen zahlreiche Nachahmer gefunden. Die Neuheit dieser Präsentation gegenüber herkömmlichen Lehrbüchern oder bis dahin bei Mathematikvideos üblichen Kameraaufnahmen von oben auf Handschrift wirft unmittelbar die Frage auf, welchen Lehrwert diese animierten Videos haben. Um dies beantworten zu können, müssen wissenschaftlich gesicherte Kriterien zugrundegelegt werden. Jedoch existieren keine expliziten didaktischen Kriterien für mathematische Animationsvideos, ebensowenig für programmierte Animationen. Daher werden vorliegend Kriterien zu Qualität und Gestaltung von Erklärvideos allgemeiner Art herangezogen. Daraus ergibt sich folgende Forschungsfrage:

Entsprechen die 3Blue1Brown-Videos den Qualitäts- und Gestaltungskriterien, die in der Fachliteratur aufgestellt werden?

Zur Beantwortung werden zunächst der Begriff der und die Eigenschaften von Erklärvideos diskutiert. Anschließend werden geeignete Theorien vorgestellt, die auf Erklärvideos Anwendung finden können. Der anschließende Schritt, Qualitätskriterien für Erklärvideos aus der Literatur anhand ihrer Anwendbarkeit sowie Sinnhaftigkeit mit Blick auf das konkrete Fallbeispiel herauszufiltern, ist zunächst durch die vorgestellten Theorien informiert; die Forschenden, die diese Qualitätskriterien aufgestellt haben, haben sich wesentlich durch diese Theorien leiten lassen. Der selbst aufgestellte Katalog anwendbarer Qualitätskriterien wird dann auf eine Auswahl von 3Blue1Brown-Videos angewendet, um abschließend im Rückblick die Forschungsfrage zu beantworten und in einem kurzen Ausblick weitere Forschungsmöglichkeiten mit engem Bezug zur vorliegenden Arbeit aufzuzeigen.

Die Literatur grenzt Erklärvideos auf ganz unterschiedliche Weisen von anderen Videoformen mit Lehranspruch wie z.B. Lehrvideos ab. Vorliegend wird dem Definitionsversuch von Fey gefolgt, der zwei zentrale Merkmale identifiziert: (1) es besteht die Absicht der Produzierenden, den Zuschauenden etwas zu erklären (intentionaler Aspekt), (2) dies wird in der medieneigentümlichen Gestaltung des Medienformats „Video" ausgedrückt (gestalterisch-didaktischer Aspekt) (vgl. Fey, 2021, S. 21). Der intentionale Aspekt umfaßt also instruktionale Erklärungen (vgl. Kulgemeyer, 2018, S. 9, vgl. 2020a, S. 5–6), mithin allgemein- wie fachdidaktische Überlegungen. Der gestalterische Aspekt umfaßt den gezielten Einsatz des Medienformats „Video“ unter Nutzung der spezifischen Vorteile und Möglichkeiten und damit neben mediendidaktischen auch medienpraktische und medientechnische Überlegungen.

Die klassischen 3Blue1Brown-Videos sind vollständig computergeneriert, es findet keine Videokamera Verwendung. Ausnahmen existieren bei „FAQ-Videos" (Videoverzeichnis: [QA]) oder Ankündigungsvideos, beispielsweise für den „Summer of Math Exposition“ (Videoverzeichnis: [SoME]). Sanderson hat dazu mit manim (Sanderson, 2015/2023) eine Programmbibliothek entwickelt, die es ihm ermöglicht, Videos in der Programmiersprache Python zu programmieren und daraus eine Videodatei generieren zu lassen. Dies umfaßt sowohl die High-Level-Organisation des Videos samt Szenen, Anzeigedauer, Schnitten und Übergängen, als auch die eigentliche mathematische Visualisierung mit Achsenkreuzen, Funktionsgraphen, 3D-Visualisierung komplexer Formen, aber auch von Graphen, Netzwerken und vielem mehr. All dies wird animiert, also zeitlich in Bewegung gebracht, dazu werden Texte an passender Stelle ein- und ausgeblendet, besondere Koordinaten farblich hervorgehoben und vieles mehr. Die Tonspur ist separat aufgenommen und in Postproduktion hinzugemischt.

Theoretische Rahmung

Da keine speziellen Theorien für Erklärvideos oder programmierte Animationen vorliegen, muß auf allgemeinere Theorien zurückgegriffen werden. Zunächst wird die Medieneigenschaft von Erklärvideos diskutiert. Anschließend wird als erstes die Theorie der Dualen Kodierung beschrieben. Darauf aufbauend wird die „Kognitive Theorie Multimedialen Lernens" vorgestellt, die aufgrund der multimedialen Verknüpfung von Sprache und Bild in Erklärvideos Ansätze zur Untersuchung der 3Blue1Brown-Videos liefern kann. Abschließend wird eine Erweiterung dieser Theorie vorgestellt, die „Cognitive-Affective Theory of Learning with Media".

Medium

Nach Wiesing sind alle Medien Werkzeuge, um die Trennung Genese–Geltung zu vollziehen, und alle Werkzeuge, die dies leisten, sind Medien (vgl. Wiesing, 2008, S. 240).

Medien selbst sind „unthematisch“ (Wiesing, 2008, S. 236), sie erfüllen ihre Funktion, sind selbst jedoch nicht sichtbar bzw. den Verwendern transparent (vgl. Krämer, 2008, S. 72).

Duale Kodierung

Die Theorie der Dualen Kodierung postuliert die bessere Abrufbarkeit von Informationen, wenn diese zugleich in verbaler, auch textueller (vgl. Matthes et al., 2021, S. 22) Form und in visueller Form im Gedächtnis verankert werden (vgl. Schmidt-Borcherding, 2020, S. 63). Durch Nutzung beider Kodierungen soll die kognitive Last sinken, indem die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses effektiv erhöht wird (vgl. Sweller, 2011, S. 67).

Kognitive Theorie Multimedialen Lernens

Wohingegen die Theorie der Dualen Kodierung auf die multicodale Speicherung von Informationen im Gehirn abstellt, beschreibt die Kognitive Theorie Multimedialen Lernens Vorteile durch zeitgleiche Nutzung mehrerer menschlicher Sinne, insbesondere der Augen und Ohren. Beide Theorien sind dadurch gut miteinander verträglich, da eine multimodale Informationsaufnahme und eine multicodale Informationsspeicherung sogar einfacher beschreibbar ist, da kein Multiplexing oder Demultiplexing mehrerer Sinneskanäle auf eine Speicherart oder eines Sinneskanals auf mehrere Speicherarten erforderlich ist.

Jedoch vermeidet die Kognitive Theorie Multimedialen Lernens das Problem, daß die Verwendung von gedruckter Schrift und gedrucktem Bild zwar unterschiedliche Kodierungen der Information nutzt, jedoch beide Kodierungen denselben Sinneskanal „Auge“ passieren müssen. Die Aufmerksamkeit der Zuschauenden teilt sich zwangsläufig zwischen Text und Bild auf (vgl. Schmidt-Borcherding, 2020, S. 66).

Die Kognitive Theorie Multimedialen Lernens postuliert getrennte Verarbeitungseinheiten für unterschiedliche Sinneskanäle wie Hören und Sehen (vgl. Schmidt-Borcherding, 2020, S. 63). Dadurch addieren sich die Verarbeitungskapazitäten verschiedener Informationsmodalitäten, z.B. das Arbeitsgedächtnis (vgl. Schmidt-Borcherding, 2020, S. 65–66), und es tritt eine scheinbare Erhöhung der Verarbeitungskapazität ein, die auf der effektiveren Nutzung aller Verarbeitungseinheiten basiert.

Cognitive-Affective Theory of Learning with Media

Die Cognitive-Affective Theory of Learning with Media setzt auf diesen Prinzipien auf und fügt eine affektionelle und motivationale Komponente hinzu, die selbstregulierend wirkt. Dabei sollen diese Faktoren insbesondere die Aufmerksamkeit der Lernenden erhöhen oder halten, aber auch die kognitive Auseinandersetzung mit dem Lernstoff stimulieren (vgl. Moreno, 2006, S. 151).

Aus diesem zusätzlichen Augenmerk heraus ergeben sich einige motivations- bzw. emotionswirksame Kriterien in den Katalogen der Qualitätskriterien in der Literatur bzw. des synthetisierten Kriterienkatalogs (z.B. K07, K11, K13, K21, K25 und K26).

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Abbildung 1 Schematische Darstellung der Cognitive-Affective Theory of Learning with Media (Moreno, 2006, S. 151)

Kriterien für Erklärvideos

Aus den theoretischen Überlegungen ergeben sich im Idealfall direkt, bei realitätsnaher Betrachtung nur teilweise oder indirekt Qualitätskriterien für Erklärvideos. Dennoch sind die Kriterien nicht allesamt aus den Theorien herleitbar, sondern entstammen auch anderen Überlegungen, praktischen Erfahrungen und empirischen Studien.

Kriterienkataloge aus der Literatur

In der Literatur sind verschiedene Kataloge solcher Qualitätskriterien auffindbar, im folgenden werden vier Kataloge ausgewertet und diese anschließend in einen eigenen Kriterienkatalog überführt.

Kulgemeyer

Kulgemeyer untersucht insbesondere die Erklärqualität von Erklärvideos, er bezieht sich also vorwiegend auf den intentionalen Aspekt, nicht so sehr den gestalterischen oder ästhetischen Aspekt (vgl. Kulgemeyer, 2018, S. 10). Der Kriterienkatalog ist in Abbildung 2 abgebildet.

Abbildung 2 Kulgemeyer 2018, S. 10

Seine Untersuchungen sind besonders geeignet, da er insbesondere Erklärvideos im Fach Physik untersucht (vgl. Kulgemeyer & Peters, 2016). Konkretere Hinweise zum Instruktionsdesign erarbeitete er in einer Folgearbeit (vgl. Kulgemeyer, 2020b, S. 73). Dieser Kriterienkatalog ist in Abbildung 3 zu finden.