Harmonisierte Standards und EU-Richtlinien

Wenn man heutzutage Produktenwicklung für den Europäischen Markt betreibt, muß man allenorten EU-Richtlinien und andere Gesetze einhalten.

Und obwohl Ingenieure diese Anforderungen auf technischer Seite üblicherweise sehr gut beherrschen, kann es manchmal desillusionieren, wenn man sie über ihre Wahrnehmung der rechtlichen Mechanismen sprechen hört.

Die Vorstellung, daß Standards und Normen (beispielsweise der IEC oder der ISO) an sich bereits rechtliche Verbindlichkeit besitzen, ist erstaunlich verbreitet. Ebenso glauben viele Ingenieure, EU-Richtlinien seien direkt bindendes Recht.

Aber das ist falsch. Daher möchte ich in groben Zügen skizzieren, wie EU-Richtlinien, nationale Gesetze und Internationale Standards zusammenwirken.

Als Beispiel wähle ich die Richtlinie 2006/42/EG, im beruflicher Umgangssprache auch als „Maschinenrichtlinie“ bezeichnet.

Diese ist nur ein Beispiel, aber andere Richtlinien funktionieren auf dieselbe Art und Weise.

Die rechtliche Funktionsweise dieses Themenkomplexes sieht wie folgt aus:

  1. Die EU verabschiedet eine Richtlinie. Richtlinien sind nicht direkt bindend für Mitgliedstaaten, Unternehmen oder Bürger (ein paar Grauzonen haben sich im Laufe der Jahre natürlich herausgebildet) und müssen von nationalen Parlamenten in nationale Gesetze gegossen werden. Die Richtlinie ist dabei eine Grundlage, die nationalen Parlamentarier dürfen darüber hinausgehen, was die Richtlinie fordert.

  2. In Deutschland haben wir diese Richtlinie durch das Produktsicherheitsgesetz umgesetzt.

  3. Das Gesetz ermächtigt eine ganze Reihe von Bundesministern, Verordnungen zu erlassen, die spezielle Themen regeln. Beispielsweise regelt die Neunte Verordnung die Maschinensicherheit.

  4. Diese Verordnungen verweisen üblicherweise auf die EU-Richtlinie zurück und betten diese auch teilweise in nationales Recht ein.

    Beispielsweise können Sie in der Neunten Verordnung lesen, daß einige Anforderungen im wesentlichen als „muß Anforderungen A, B und C gemäß Anhang I aus 2006/42/EG erfüllen“ oder als „muß Dokumentation gemäß Anhang I aus 2006/42/EG bereitstellen“ formuliert sind.

    Das nationale Gesetz und die nationalen Verordnungen müssen erfüllt werden. Nicht ein „EU-Gesetz“. Dieses Gesetz und kein anderes.

    Die Schlüsselerkenntnis ist diese: wie Sie diese Anforderungen erfüllen liegt bei Ihnen. Ebenso liegt die Beweislast bei Ihnen, daß Sie diese Anforderungen erfüllt haben.

  5. Weil diese Anforderungen ziemlich vage und abstrakt gehalten sind, können Sie nicht unbedingt ganz einfach beweisen, daß Sie alle Anforderungen erfüllen. Daher eröffnet das Gesetz Ihnen einen bequemeren Pfad (und letztenendes, weil dies der Gedanke hinter dem “New Approach” ist, den die EU verfolgt):

    Sie dürfen zeigen, daß Sie die Anforderungen bestimmter anwendbarer Standards erfüllen. Wenn sie dies zeigen können (und die Beweislast liegt hierfür nach wie vor bei Ihnen!), dann greift automatisch die Konformitätsvermutung, daß Sie Gesetz und Verordnungen befolgen.

  6. Hier kommt nun diese Tabelle ins Spiel. Diese sind die Standards, die „unter der Richtlinie harmonisiert“ sind.

    Wenn Sie einen Standard finden, der auf Ihren Anwendungsfall zutrifft (Sie dürfen keinen Standard zur Reaktorsicherheit auf Ihre Spielwaren anwenden…), können Sie die Beweislast von Gesetz und Verordnung zum Standard verschieben (soweit anwendbar).

  7. Bislang klingt das nicht sehr aufregend. Sie haben lediglich einen Satz von Anforderungen, für den Sie die Beweislast tragen, durch einen anderen Satz von Anforderungen, für den Sie auch die Beweislast tragen, ersetzt.

    Der Witz dabei ist, daß diese Standards auf Ihren Anwendungsfall zugeschnitten und damit viel praxistauglicher und handhabbarer sind.

    Und der eigentliche Witz ist, daß Sie vom TÜV, der Berufsgenossenschaft und anderen „Benannten Stellen“, die das EU-Recht festgelegt hat, eine Zertifizierung erhalten können, daß Sie den Standard befolgen. Sie werden TÜV oder BG vermutlich nicht dazu bekommen können, Konformität zum Produktsicherheitsgesetz zu bescheinigen.

  8. Aber es steht Ihnen jederzeit frei, jeden harmonisierten Standard zu ignorieren. Wenn Sie ein gutes Gefühl dabei haben, die Anforderungen der nationalen Gesetze und Verordnungen ohne die Hilfe dieser harmonisierten Standards zu erfüllen, dürfen Sie dies tun. Und in vielen Fällen müssen Sie das ohnehin, weil keine richtig anwendbaren harmonisierten Standards existieren.